10 Karl Wolfskehl: An die Deutschen

In seinem umfangreichen Exilwerk nimmt An die Deutschen einen besonderen Platz ein

Es begleitete Wolfskehl nahezu durchgängig durch die Exiljahre. Die letzte, endgültige Fassung stammt aus dem Jahr 1944. Erste Veröffentlichungen kursierten bereits 1933 in handschriftlichen Versionen. Von Anfang an handelt es sich bei dem Gedicht um ein offenes Projekt: Es wurde an ausgewählte Leser verschickt und war somit auf Auseinandersetzung und Austausch angelegt. 

Markant ist die spannungsreiche, geradezu konfrontative Zweiteilung: Während Das Lied bereits eine tiefe Verwurzelung und Verbundenheit in deutscher Kultur betont, steht der zweite Teil Der Abgesang für Bruch, Trennung und Zerstörung, die nun von »Teut«, dem Deutschen, ausgeht. Die 
Destruktivität der Deutschen auch gegenüber der eigenen deutschen Kultur, wie sie in Der Abgesang beklagt wird, hebt sich gerade durch die kontrastive Gegenüberstellung von dem Lied ab. 


Ein handschriftlicher Entwurf mit Datum vom 15. 9. 1935 von Abgesang, dem zweiten Teil des Gedichts An die Deutschen. Die (lesbaren) handschriftlichen Vermerke stammen von Margot Ruben. Die Datierung des Gedichts ist von Bedeutung: An diesem Tag traten die nationalsozialistischen Nürnberger Rassegesetze in Kraft. 
© Deutsches Literaturarchiv Marbach
Im Lied wiederum entfaltet der Dichter Wolfskehl in sieben Strophen eine gemeinsame deutsch-jüdische Kulturtradition von historischer Tiefe, wenn er zum Beispiel in der zweiten Strophe die verehrende Erinnerung an Karl den Großen, Otto II. und an den Stauferkaiser Friedrich II. mit der eigenen Familiengeschichte durch die Erwähnung des Vorfahren »Ritter, Raw Kalonymus« verbindet. Wolfskehls eigenes aktives Mitwirken an deutscher Kultur verdeutlicht die dritte Strophe, wenn unter anderem die Übersetzung des Hildebrandsliedes, Walthers von der Vogelweide, Reinald von Dassel, aber auch die Veröffentlichung weniger bekannter Dichtung wie der Weinschwelg aufgeführt werden:


Eure Dichter sind auch meine.
Auf rief ich Held Hildebrand,
Mit dem Schwelg sass ich beim Weine, 
Mit Herrn Walther auf dem Steine,
Fuhr mit dir durchs welsche Land,
Erzpoet, zu Reinalds Ruhme,
Flocht den vollsten Blütenstrauss,
Wählend, wägend Blum auf Blume,
Mir und euch für unser Haus.


Trotz des Gegensatzes zwischen Lied und Abgesang – eine überzeitliche Bedeutung und Wirkkraft erhält George: Die letzten Zeilen des Abgesangs sind auf ihn ausgerichtet und beiden Gedichten geht ein George-Zitat voraus. Der eigenen lyrischen Stimme des exilierten Dichters Wolfskehl gehen somit geradezu programmatisch Äußerungen Georges voraus.
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